Home Metaverse Was diejenigen über das Metaversum denken, die schon längst eines bewohnen

Was diejenigen über das Metaversum denken, die schon längst eines bewohnen

by admin

Die Bewohnerinnen virtueller Welten wissen seit Jahren, wie sich das Metaversum anfühlen kann. Nun fürchten sie, dass der Facebook-Konzern ihre Utopie vereinnahmt.

Im Herbst 2015 fragte sich Christina Kinne, ob sie jemals wieder Freunde haben werde. Und ob eigentlich noch irgendjemand an sie denke. Sie war damals Anfang 40, freiberufliche Drehbuchautorin – vor allem aber Mutter zweier kleiner Kinder. Und sie vermisste einen der wichtigsten Aspekte ihres alten Lebens: «Ich war immer ein sozialer Mensch», sagt sie, Partys und Kneipenbesuche seien ihr wichtig gewesen.

Doch mit den Kindern und einem Mann, der beruflich viel unterwegs ist, ging das nicht mehr. «Ich musste immer absagen, und irgendwann hat keiner mehr nachgefragt.»

Im Oktober 2016 stiess Kinne auf einen Artikel über die virtuelle Welt High Fidelity, die Nutzerinnen und Nutzer mit einem Virtual-Reality-Headset besuchen können. Vom Wohnzimmer aus als Avatar eine phantastische Welt zu besuchen, die sie selbst mitgestalten kann, davon hatte sie seit ihrer Jugend geträumt. «Aber ich dachte, ich erlebe das nicht mehr.»

Im Jahr 2016 waren die ersten Headsets für 3-D-Simulation Oculus und Vive auf den Markt gekommen – das war die Wende für Kinne. Nun konnte sie gleichzeitig zu Hause und unterwegs sein. Sobald die Kinder im Bett waren, konnte Kinne «ausgehen» – und war stets nur einen Schrei entfernt. Wurde ein Kind wach, sagte sie: «Einen Moment, bin gleich zurück», legte das Headset zur Seite und schaute nach dem Rechten, während ihr Avatar erstarrte, bis sie wieder zurück war.

Besorgnis über zentralistischen Ansatz

Wer Christina Kinne heute in der virtuellen Realität trifft, erlebt einen quirligen Avatar in Bustier und kurzer Hose mit einer Frisur zwischen Irokesenschnitt und Zopf – alles davon in Lila. Eine junge Frau, die am liebsten überall gleichzeitig wäre, übersprudelt vor Energie und Ideen – und sauer ist auf Mark Zuckerberg: «Das Metaverse gibt es schon lange. Ich bin sehr besorgt über Zuckerbergs zentralistischen Ansatz.»

Ihre Befürchtung: Der Meta-Chef möchte das Metaversum vereinnahmen, er möchte über die Regeln und die Struktur bestimmen und dank den Headsets mit Sensoren und künftig Kameras noch mehr Daten über Nutzer sammeln. Das Metaversum darf aus ihrer Sicht keinesfalls von einem einzigen Anbieter bestimmt sein.

Diese Sorge hört man derzeit in vielen sozialen virtuellen Räumen. Diejenigen, die in virtuellen Welten ein Leben aufgebaut haben, wissen, was es bedeutet, dieses einem einzigen Anbieter auszuliefern. Manche von ihnen haben den Weltuntergang erlebt.

2017 in der Welt Altspace VR: Die Nutzerinnen und Nutzer von Altspace VR sitzen in der virtuellen Welt zusammen und warten auf deren Ende. Zwei Jahre lang haben sie online Freude und Leid geteilt, es spielten sich Dramen ab, Liebespaare fanden sich. Dann erklärte Altspace VR, dass es am 3. 8. 2017 schliessen müsse. Das Geld ist aus, keiner hat eine Idee, wie sich die soziale virtuelle Realität bezahlt machen soll. Der Markt für virtuelle Realität ist nicht so gewachsen wie gedacht – und Investoren wollen keine weitere Runde finanzieren. 

«Wir haben schon viele Tränen geweint, und es werden noch mehr dazukommen», schreiben die Gründerinnen. Das Unternehmen lädt zu einer Abschiedsparty ein, am 3. August um 19 Uhr. «Danach schalten wir das Licht aus.»

In dieser Zeit, vier Jahre vor Zuckerbergs Ankündigung, gibt es vielleicht fünf, sechs soziale virtuelle Welten in 3-D. Sie heissen Altspace, High Fidelity, VR Chat oder Rec Room. Jede hat ihre eigene Charakteristik: interaktive Spiele von Frisbee bis Tennis in Rec Room, bei denen manche Nutzerin so weit mit dem Tennisschläger ausholt, dass sie den Schlafzimmerspiegel in der realen Welt zerschlägt. In anderen kann man abgefahrene Raumschiffe gestalten und steuern oder hat grösstmögliche Freiheit darin, seinen Avatar selbst zu gestalten. Dass sich philosophische Debatten am Lagerfeuer gut führen lassen, ist typisch für Altspace.

Warten auf den Weltuntergang am virtuellen Lagerfeuer

An jenem Weltuntergangsabend 2017 steht eine Gruppe um das Lagerfeuer, an dem sich so viele von ihnen zum ersten Mal gesehen haben. Ben und Shoo haben sich in dieser Welt verlobt – er ist US-Amerikaner, sie Chinesin. Sana, die strenggläubige Muslimin und Witwe aus Kuwait, hat hier neue Freunde gefunden, nachdem sie ihre materielle Realität in Kuwait-Stadt als zu einengend erlebt hatte. Crystal, eine Arzthelferin aus Las Vegas, hat ihre soziale Angststörung in VR überwunden und unzählige beliebte 48-Stunden-Partys in der virtuellen Welt organisiert – inklusive eines virtuellen Campingplatzes mit einem atemberaubenden Sternenhimmel. Wer ihn sehen wollte, konnte sich einfach auf den Boden legen – in der materiellen Welt mit Headset auf den Wohnzimmerboden, in der virtuellen auf die Isomatte am Lagerfeuer.

Als es dann tatsächlich so weit ist und der angekündigte Weltuntergang unmittelbar bevorsteht, passiert: nichts. Einige übernächtigte Avatare reiben sich ungläubig die virtuellen Augen. «Was ist denn jetzt?», fragt einer.

Die Avatare umarmen sich, und die Menschen, die in diesen Avataren stecken, jede und jeder in seinem Wohnzimmer, verteilt über die Welt, geniessen einen der vielen unglaublichen Effekte dieser virtuellen Welt – nämlich, dass sich virtuelle Umarmungen echt anfühlen. 

Der reale Druck und die Wärme einer materiellen Umarmung fehlen weniger, als man meinen könnte. Denn das Headset, das die reale Welt in Bild und Ton mit einer virtuellen ersetzt, lässt einen wirklich so fühlen, als wäre man an einem anderen Ort. Das Gehirn ergänzt fehlende sensorische Eindrücke. Nutzerinnen und Nutzer «spüren» eine virtuelle Umarmung dann beispielsweise in Form eines Kribbelns auf dem Rücken.

Die echten Menschen in den Wohnzimmern weinen, in der virtuellen Welt hört man Tränen in der Stimme und Schniefen. Durch die Ankündigung, diese Welt werde abgeschaltet, ist ihnen klargeworden, wie wichtig sie ihnen geworden ist und wie zerbrechlich sie ist. Wie abhängig das eigene Sozialleben ist von der Laune von Investoren.

Aber Altspace bleibt «eingeschaltet», die Server sind weiterhin erreichbar. Das soziale Leben geht erst einmal in der Schwebe weiter. Zwei Monate später wird bekannt: Microsoft hat Altspace gekauft. Es geht weiter!

Vereinbarkeit von Mutter- und Punk-Girl-Dasein

Zuckerbergs Vision eines Metaversums geht über die virtuelle Realität hinaus. In seiner Ankündigung sprach er davon, dass sich digitale Welten mit analogen mischen sollen und dass diese nicht nur mit 3-D-Brillen, sondern auch durch Augmented Reality, also erweiterte Realität, und, in 2-D, von Desktop-Computern und Mobiltelefonen aus zugänglich sein sollten. Erweiterte Realität bedeutet, dass virtuelle Gegenstände in die analoge Welt eingeblendet werden: entweder via Smartphone oder via AR-Brillen. Wie genau die Welten ineinandergreifen sollen, führte er nicht aus.

Im Roman «Snow Crash», in dem der Begriff Metaversum zum ersten Mal auftaucht, führt die Vermischung der Welten zu verwirrenden Situationen. Die Menschen, die mittels smarter Augmented-Reality-Brillen in das Metaversum kommen, sind in zwei Welten gleichzeitig: in der materiellen und in der virtuellen. Und es ist oft nicht klar, mit wem sie gerade interagieren.

Viele Fans von virtuellen Welten sind skeptisch gegenüber vermischten
Realitäten. Sie geniessen es gerade, dass die Naturgesetze und die Äusserlichkeiten der materiellen Welt in der virtuellen Realität keine Rolle spielen. Kinne sagt: «VR gibt dir die Chance, der zu sein, der du bist.» Das nivelliere etwa Altersunterschiede, ihr virtueller Freundeskreis umfasse sowohl 17- als auch 70-Jährige. Und es bringe Freiheit. Kinne kann mit ihrem Avatar Pogo tanzen, und die Leute nehmen sie als überdrehtes Punk-Girl wahr. «Wenn ich das im echten Klub versuche in meinem Alter, kommt im besten Fall die Frage: ‹Sind Sie hier, um Ihre Kinder abzuholen?›, oder gar: ‹Bist du ein Zivi-Cop?›»

Auch Kinnes «Heimatplanet», die Welt High Fidelity, wurde eines Tages wieder geschlossen. Sie hat daraufhin zusammen mit einigen anderen die Welt Tivoli Cloud VR aufgebaut, indem sie den Open-Source-Code von High Fidelity nach ihrem Geschmack weiterentwickelt haben, so bunt und offen wie möglich: «Wir wollen ein freundliches und inklusives Metaverse sein», sagt sie. Eine Welt von vielen, ganz wie sie die Idee des Metaversums versteht: «Es sollte ein schöner wilder Westen aus vielen verteilten Welten sein, in denen man sich gegenseitig besuchen kann.» Dann sei auch das virtuelle Leben nicht zu Ende, wenn eine der Welten schliesse.

Quelle:

Foto: Die Metaversum-Besucher geniessen es, in der virtuellen Welt ganz anders zu sein – und doch sie selbst. Tivoli Cloud VR

https://www.nzz.ch/technologie/was-diejenigen-ueber-zuckerbergs-metaversum-denken-die-laengst-schon-eines-bewohnen-ld.1656100

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