Ein Auto, das die Farbe wechselt, eine Weste, die Wind simuliert, und ein Roboter, der einem am Finger nuckelt: Die Technikmesse CES ist voller skurriler Neuheiten. Im Grunde aber dreht sich alles nur um eins: die virtuelle Realität.
Da ist zum Beispiel die Grammy-Verleihung, das jährliche Gute-Laune-Treffen der Sex, Drugs & Rock’n’Roll-Branche in Los Angeles: verschoben, wegen Unsicherheiten aufgrund der Omikron-Variante. Oder das Sundance Film Festival in Utah, einer der wichtigsten Treffpunkte der Filmindustrie: verlegt in virtuelle Vorführungen, ebenfalls wegen Covid-Bedenken. Die CES allerdings, die Messe der Technikbranche in Las Vegas, die fand in dieser Woche statt, mit Besuchern vor Ort. Und es könnte doch kein treffenderes Symbol für den Zustand dieser Branche geben, die wie kaum eine andere davon profitiert, dass sich Menschen derzeit nur eingeschränkt begegnen.
“Ohne Risiko gibt es keine Innovation”, sagte Gary Shapiro, Chef von Branchenverband und Ausrichter CTA. Bei der Ankunft in Vegas mussten Besucher am Flughafen, noch vor den Koffer-Karussellen, nicht nur ihre Impfnachweise vorzeigen, sie bekamen mit der Akkreditierung auch einige Selbst-Schnelltests überreicht – sicher ist sicher -, und dann sollten sie sich in der wirklichen Welt das “Metaverse” zeigen lassen; jenen virtuellen Ort, an dem sich die Leute in gar nicht mal so ferner Zukunft länger aufhalten sollen als in dieser wirklichen Welt. Auch das: eine einzige Metapher für den Zustand der Branche.
Schon klar: Es war sicherlich keine einfache Entscheidung, diese Messe wie geplant zu veranstalten. In Australien wird bald auch vor Zuschauern Tennis gespielt, die Olympischen Winterspiele in Peking werden auch stattfinden. Die CES ist ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor für Las Vegas (im Prä-Pandemie-Jahr 2020 lagen die zusätzlichen Einnahmen für die Stadt bei 291 Millionen Dollar). Vor allem die kleinen Start-ups brauchen im Gegensatz zu Tech-Platzhirschen wie Amazon, Google und Microsoft, die kurzfristig auf ihre Teilnahme verzichteten, die Aufmerksamkeit, die so eine Messe mit sich bringt.
Detailansicht öffnen
Den Roboter Ameca möchte man lieber persönlich auf der Technikmesse CES kennenlernen als nur im Internet.(Foto: JAMES ATOA /imago images/UPI Photo)
Fido zum Beispiel, das Fitness-Halsband für Hunde. Oder der selbstfahrende Traktor von John Deere. Oder der graugesichtige Roboter Ameca, dessen von 17 Motoren gesteuerte Mimik derart lebensecht daherkommt, dass selbst Menschheits-Chef-Visionär Elon Musk darüber sagt: “Yikes”, also: Ach herrje! Das skurrilste Gadget in diesem Jahr: Amagami Ham Ham, ein kleines Robotertierchen, das einen, ja wirklich, durch Nuckeln am Finger beruhigen soll. Wer sich wundert, wer so was erfindet, dem sei gesagt: die gleiche Firma, die im vergangenen Jahr einen Roboter-Katzenhintern zum Streicheln präsentiert hat.
Es gibt Dinge, die sich nicht simulieren lassen
Solche Sachen gehören zur CES, und es stimmt schon: Die rein virtuelle Veranstaltung im vergangenen Jahr zeigte, wie einfach so eine Messe zu veranstalten ist mit Videotelefonie, Daten per Mausklick und automatisch getauschten Visitenkarten – und wie öde. Die Pandemie hatte zwar gezeigt, dass man auch von daheim aus arbeiten, sich so ziemlich alles kontaktlos nach Hause liefern lassen und Freunde per Videochat treffen kann. Sie zeigte aber auch, dass es nun mal Dinge gibt im Leben, die sich nicht simulieren lassen. Man möchte an der Bar beim Feierabend-Bier mit Fremden debattieren. Wie viele neue Leute und damit frische Ideen und Gedanken hat man denn während des Lockdowns kennengelernt? Man will ein Konzert live in der Menge erleben oder auch mal überrascht werden.
All das verstärkt sich auf der CES exponentiell, weil dort nun mal Dinge gezeigt werden, die man bisher noch nicht erlebt hat: Man will diesen BMW, der seine Farbe verändert, mit eigenen Augen sehen und nicht in einem Video. Man will die Mimik von Ameca erleben und selbst “Yikes” rufen. Man will wissen, wie sich das anfühlt, wenn Amagami Ham Ham am Finger nuckelt. Man will selbst sehen, ob dieser Freestyle-Projektor von Samsung wirklich so ein tolles Bild auf die Leinwand zaubert wie versprochen.
Genau das führt zum großen Trend auf der CES in diesem Jahr: Metaverse hat Disruption als Buzzwort der Branche abgelöst; es wurde derart inflationär verwendet, dass Analyst Avi Greengart eine Warnung aussprach (“Ich rate von Trinkspielen mit dem Wort ab, Teilnehmer könnten bis zum Ende der Woche an Leberschaden sterben.”) und Virtual-Reality-Experte Nima Zeighami auf Twitter einen Eintrag mit lächerlichen Varianten einstellte: “Metaverse für Mobilität”, “Metaverse – Zeitreisen sind nun möglich” und sein Favorit: “Metaverse of Madness”, der Wahnsinn im Metaversum.
Metaverse, also die konsequente Fortführung von Virtual und Augmented Reality, ist keine neue Idee – so wie die meisten CES-Trends keine neuen Gedanken sind. In diesem Jahr gab es so viele elektrische und selbstfahrende Autos zu sehen, dass Tesla-Chef Musk einen “Yikes”-Schluckauf bekommen haben muss. Virtuelle Realität fasziniert die Menschen spätestens seit dem Musikvideo zum Aerosmith-Hit “Amazing” aus dem Jahr 1993, als ein pickeliger Teenager Abenteuer mit Alicia Silverstone erlebt und am Ende feststellt, dass in Wirklichkeit sieeine Virtual-Reality-Brille trägt und er der Roboter ist.
Meta, die Firma formerly known as Facebook, hat im vergangenen Jahr mehr als zehn Millionen Exemplare seiner VR-Brille Quest 2 verkauft, und wer bei der Begegnung mit Darth Vader während des Star-Wars-Spiels nicht wenigstens ein bisschen erschreckt, bleibt auch bei einer Bombenexplosion völlig gelassen. Meta-Chef Mark Zuckerberg hält Metaverse für das nächste große Ding; Apple, das ist den Protokollen der Lieferengpässe aus China zu entnehmen, arbeitet an einem Headset; Qualcomm und Microsoft haben sich für die Entwicklung eines Metaverse-Chips zusammengetan. Die Komponenten Cloud-Computing und 5G sind so weit, dass die Brillen nicht mehr nur im heimischen Wlan funktionieren, sondern praktisch überall, wo es Handyempfang gibt – und das hat wieder sehr viel mit der CES zu tun.
Umsiedeln in eine virtuelle Realität
Metaverse lässt sich, das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der CES, in etwa so schwer definieren wie der Begriff “Freiheit” – für die einen klingt er nach der Befreiung aus weltlichen Zwängen, andere halten es für ein geistiges Gefängnis wie die Matrix in den gleichnamigen Filmen. Es ist eine virtuelle Welt, in der die Menschen, nun ja, sein können – doch ist das zum Beispiel mit Quest 2 ein Erlebnis, das man nur mit zwei Sinnen (Sehen und Hören) genießt und während dem man für andere ziemlich lächerlich aussieht, wie zahlreiche Epic-Fail-Videos beweisen, in denen Leute in Schränke fallen oder unabsichtlich ihre Freunde ohrfeigen.
Auf der CES gab es nun zum Beispiel die Kontaktlinsen der Firma In-With zu bestaunen, die womöglich schon Ende dieses Jahres auf den Markt kommen und quasi unsichtbar für Dritte sind. Oder die Weste des spanischen Unternehmen Owo, deren zehn Sensoren dafür sorgen, dass man eine Windbrise spürt, während man in der virtuellen Welt einen Berg hinuntergleitet – oder tatsächlich glaubt, dass einen Insekten ärgern. Man kann das doof finden, oder wirklich den Angriff eines virtuellen Bösewichts abwehren, weil dessen erster Messerstich im Rücken dann doch ziemlich wehgetan hat.
Metaverse ist ein bisschen wie das zweite Versprechen von Musk und seinen Firmen, wenn es mit der Weltenrettung über Elektroautos und Solardächer nicht funktioniert: Umsiedeln auf einen anderen Planeten. Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dass Technik nicht alle Probleme der wirklichen Welt lösen kann, auch wenn die Branche das häufig verspricht. Das neue Ziel also: Umsiedeln ins Metaverse, und wenn man alles erlebt hat, was die Branche plant und wie sie sich die Zukunft vorstellt, dann wählt man dafür den Begriff, den auch Musk sicher ganz bewusst gewählt hat, weil er Faszination und Furcht gleichermaßen ausdrückt: Yikes.
Quelle:
Foto: Real oder virtuell? Auf der CES scheinen die Grenzen für die realen Besucher mitunter fließend.(Foto: Joe Buglewicz/AP)
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ces-start-ups-las-vegas-technikmesse-1.5502672